Autoritäre Zuspitzung in Leipzig rund um den Tag X und die #freeLina Proteste

Leipziger Kessel und Co. als Blaupause für kommenden Protest? Eine Einordnung zu den Geschehnissen am und um den 3.6.2023 in Leipzig

Wir haben in den vergangenen Monaten mit Antifaschist*innen aus verschiedenen Städten und politischen Zusammenhängen gesprochen, die die Repression des Protests rund um den Tag X im Zusammenhang mit dem Antifa Ost Prozess in Leipzig miterlebt haben. Einige Gedanken, Einordnungen und Fragen, die sich aus den Gesprächen ergeben haben, wollen wir hier mit euch teilen.

Was sich in Leipzig rund um den Tag X ereignet hat, der als Reaktion auf die Verurteilung von Lina E. und 3 weiteren Antifaschist*innen ausgerufen wurde, war eine neue Spitze der Repression von antifaschistischem Protest und eine Blockbuster-Inszenierung einer linken Gefahr durch deutsche Sicherheitsbehörden.

Zur Chronologie

  • Nach der Verurteilung von Lina E. und 3 weiteren Antifaschisten am 31.5. zu mehreren Jahren Haft im Rahmen des Antifa Ost Verfahrens wird von Antifaschist*innen der Tag X ausgerufen und eine Demonstration für den darauffolgenden Samstag, den 3.6. angemeldet. Die Demo wird schon im Vorfeld verboten, wegen ,,massiver Gefahreneinschätzung” seitens der Leipziger Stadt und Polizei. Das Verbot wird angefochten, kann aber nicht gekippt werden. Im Nachgang wird durch eine kleine Anfrage beim Landtag klar, dass dem keine Fakten zugrunde lagen und dass sich dabei nur diffus auf die ,,Wir sind alle linx”-Demo von 2021 bezogen wurde.
  • Um trotzdem die Wut auf die Straße zu tragen, wird kurzfristig von Antifaschist*innen eine alternative Demo mit Bezug auf die Einschränkung der Versammlungsfreiheit angemeldet, zu der sich am Samstag weit über tausend Teilnehmer*innen versammeln.
  • Die Demo wird von der Polizei nicht laufen gelassen, die Teilnehmer*innen müssen auf dem Alexander-Leusch-Platz ausharren. Zu diesem Zeitpunkt sind der Platz und die angrenzenden Straßen bereits vollständig von Hundertschaften und Wasserwerfern umstellt/dicht gemacht. Ob der Plan war, die Demo jemals loslaufen zu lassen, ist zweifelhaft.
  • Ein Teil der Demo setzt sich irgendwann trotzdem in Bewegung, es gibt einige unruhige, tumultige Minuten. Binnen weniger Minuten zieht die Polizei, die schon bereit stand, zu und setzt einen Teil der Menge fest. Etwa 1000 Leute sitzen ab diesem Zeitpunkt im ,,Leipziger Kessel”.
  • Der pauschale Vorwurf des schweren Landfriedensbruchs gilt als Grundlage für den Kessel, in dem die Antifaschist*innen, unter ihnen viele Minderjährige, bei zeitweise unter 10 Grad die ganze Nacht im Gebüsch, ohne Toilette und Versorgung, ausharren müssen. Trinkwasser und Rettungsdecken gibt es nur von solidarischen Sanis.
  • Die Cops ziehen nach und nach Personen aus dem Kessel, um sie zu durchsuchen und die Identität festzustellen, teilweise werden Handys abgenommen, einige Personen landen in der Gefangenensammelstelle. Während dieses Vorgehens gibt es bis spät in die Nacht gezielt aggressives Vorstoßen in die Menge, teilweise werden um 4 Uhr morgens noch Schmerzgriffe gegen völlig erschöpfte Menschen angewandt. Der solidarischen Ansammlung an Menschen, der sich außerhalb des Kessels befindet, wird immer wieder gedroht, mit dem Wasserwerfer entfernt zu werden. Irgendwann nachts ertönt die Aussage, dass bis zum Ende des Wochenendes, Sonntag 24 Uhr alle politischen Äußerungen zu Lina und Versammlungen in Leipzig verboten sind.
  • Die letzten Menschen kommen um ca. 5 Uhr morgens aus dem Kessel-Gewahrsam raus.
  • Vom Versammlungsverbot wird auch am nächsten Tag Gebrauch gemacht, als sogar der Support an der Gefangenensammelstelle, der sich solidarisch mit den immer noch inhaftierten Antifas zeigt, aufgelöst wird.
  • Auch über das Wochenende hinaus werden 10 Personen vorläufig in U-Haft gesteckt.

Das Wochenende und die Tage davor und danach haben wieder einmal gezeigt, dass die Repressionsorgane des Staates und die bürgerliche Presse beste Komplizen sind, die sich gegenseitig Narrative schaffen, welche wiederum die nächsten repressiven Schritte gegen Antifaschist*innen legitimieren sollen. Immer grundlegend dabei: Der Feind steht links.

Wir haben alle den Prozess um Lina E. mitverfolgt: Das war ein politisch geführter Indizienprozess mit dem Ergebnis einer mehrjärigen Haftstrafe – ohne feste Beweisgrundlage. Am Tag der Urteilssprechung, am 3.5., wird aus Lina E. eine ,,verurteilte Linksextremistin”. Dieses Narrativ wird am darauffolgenden Wochenende genutzt, um die mit ihr solidarischen Proteste zu verunglimpfen.
Es ist aus dieser Sicht ganz einfach: Da, wo Leute sich mit einer ,,verurteilten Linksextremistin” solidarisieren, kann man auch mal eben das Grundrecht der Versammlungsfreiheit für ein ganzes Wochenende aushebeln, Menschen 10 Stunden ohne Versorgung in einem Polizeikessel festsetzen und jegliche politische Aussage verbieten. Ansonsten sorgt schon einer der zahlreichen herangekarrten Wasserwerfer dafür, dass die Leute ihre Schnauze halten und den Prozess um Lina nicht zu dem Politikum zu machen, das er ist. Öffentlicher Dissens ist nicht erlaubt.
Wenn es um Linke geht, dann interessiert es diejenigen, die sonst so ritualisiert und fetischisierend auf Grundgesetz und Verfassung pochen und Linke als Verfassungs- und Demokratiefeinde brandmarken auf einmal herzlich wenig, wenn der Rechtsstaat sich partikular verabschiedet.

Wir finden es wichtig, diese autoritäre Zuspitzung rund um den Tag X in Leipzig in eine Chronolgie der Repressionsverschärfung gegen antifaschistische Praxis und Bewegung einzubetten.
Gleichzeitig wollen wir uns mit dem Verweis auf die Verletzung von Rechtsstaatlichkeit und Versammlungsfreiheit nicht auf die bürgerliche Diskussion über legitimen und illegitimen Protest und was denn jetzt die vernünftige, ,,verhältnismäßige” Polizeistrategie sei, Protest zu unterdrücken oder einzuhegen, einlassen – die gibt es nicht. Die Unverhältnismäßigkeit dadurch zu unterstreichen, dass man die Demonstrant*innen in ,,ein paar Gewaltbereite/Kriminelle” und einen friedlichen Rest, der jetzt in Mitleidenschaft gezogen wird, einteilt, gleicht einer Entsolidarisierung mit dem militanten Ausdruck des Protests und entschärft das Anliegen, einen radikalen, unversöhnlichen und entschlossenen Dissens mit der gegenwärtigen Gesamtscheiße zu formulieren und der drohenden rechten Hegemonie etwas entgegenzusetzen.

Der bürgerliche Staat ist im Kampf gegen Faschismus nicht unser Freund, auch nicht in seiner liberalen Variante, die Rücksicht auf Versammlungsfreiheit nimmt, sondern in erster Linie Komplize des Kapitals und Garant einer falschen Ordnung, deren rechte Schlagseite immer weiter Richtung Faschismus kippt. Es ist diese Ordnung, in der der Faschismus gärt, die bekämpft werden muss und keine Zukunft haben darf – für eine bessere Zukunft dürfen wir uns von den engen Begrenzungen, die der Staat Protest setzt, nicht einhegen lassen. Der bürgerliche Rechtsstaat lässt immer gerade so viel Spielraum für Protest, wie es der herrschenden Ordnung nicht zu gefährlich wird. Da geht es auch mal dem Versammlungsrecht an den Kragen, wie wir z.B. bei der Verabschiedung des neuen Versammlungsgesetzes in NRW gesehen haben, das sich vor allem gegen Klimaaktivist*innen und Antifaschist*innen wendet.

Die Sicherheitsbehörden verschärfen die Repression gegen Linke immer weiter und schaffen sich mit Inszenierungen wie in Leipzig selbst die Legitimierungsgrundlage – der ,,Mythos Connewitz” und die ,,linke Gefahr” werden durch einen medial wirksamen Großeinsatz mit 17 Wasserwerfern und über 4000 cops wirksam heraufbeschworen und mit dem Leiziger Kessel wandern 1000 neue ,,linke Straftäter” in die polizeilichen Datenbanken und hübschen die Statistiken zu linker Gewalt auf. Diese Statistiken dienen dann wiederum als Grundlage für weitere Repressionsverschärfung und nebenbei der Verharmlosung der Gefahr von rechts – eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Wir haben den Eindruck, dass, je größer und offensichtlicher die Gefahr durch die Rechten wird, die immer offener im öffentlichen Raum – auf den Straßen, den Dörfern, im Parlament – auftreten und je größer die sozialen Verwerfungen, desto ernergischer wird daran gearbeitet, das Feindbild und die Gefahr von links zu konstruieren.

Die eurpäische Asypolitik wird immer brutaler, das Asylrecht wird suksessive abgeschafft, das massenhafte organisierte Töten und Sterbenlassen an den europäischen Grenzen ist selbst grenzenlos, in Deutschland ist die AfD in Umfragen die zweitstärkste Kraft, vor kurzem wurde der erste AfD Landrat ins Amt gewählt. Vor allem im Osten gibt es eine bereits teils realisierte, teils drohende rechte Hegemonie.

Die Gegenwart und Zukunft ist düster. Wir fragen uns, was wir dem in diesen Zeiten, in denen wir stecken, entgegensetzen können.
Es stellt sich die Frage nach einer antifaschistischen Praxis, die sich nicht nur in Mobilisierungen erschöpft und nach Demos wieder verpufft, weil ihr verbindliche Organisierungstrukturen als Grundlage fehlen und die Verankerung in anderen gesellschaftlichen Bereichen als der ,,Szene”.

Es stellt sich die Frage nach einer Praxis, die sich nicht in bürgerlichen Bahnen bewegt und tatsächlich an den Verhältnissen kratzt. Es stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Repressionen, die uns teilweise handlungsunfähig machen und unsere Strukturen geschädtigt haben und schädigen.

Die Leipziger Gruppe Kappa hat einen Text zur Reflexion mit dem Umgang mit Repressionen in der Leipziger Antifa-Szene verfasst, den wir an dieser Stelle ans Herz legen möchten: https://kappaleipzig.noblogs.org/post/2023/05/06/leipzig-die-repression-wirkt-reden-wir-darueber/

Konkret auf den 3.6. in Leipzig bezogen fragen wir uns, ob eine solche angemeldete Großdemonstration in dieser Form noch Sinn macht, wenn #LE0306 als Blaupause für den Umgang mit kommenden Großprotesten wird. Vielleicht müssen wir darüber nachdenken, wieder dezentraler, autonomer, spontaner – oder unangemeldet – unterwegs zu sein? Was können wir uns noch von der Zusammenarbeit mit den Versammlungsbehörden erhoffen?
Das entschlossener Widerspruch weiter auf die Straße muss, ist klar.

Zum Ende noch ein paar Worte der ehemaligen Antifa-Kleinparis aus Leipzig:

,,An dieser Stelle sei allen Fetischdienern des Grundgesetzes und moralischen Empörern mit auf den Weg gegeben: Euer sozialer Frieden ist nur zum Preis einer durch und durch rassistischen Gesellschaft zu haben. Wer dem rechten Terror landauf und landab entschlossen entgegen treten, den Menschen, die hier ankommen, ein würdiges Leben ermöglichen und die Ursachen ihrer Flucht beseitigen will, der kann dies nur gegen die bestehenden Verhältnisse tun. Dazu muss eine linksradikale Praxis und ein konsequenter Antifaschismus deutlich mehr Grenzen überschreiten, ebenso wie unsere Praxis in Solidarität mit den Kämpfen von Geflüchteten die Grenzen der rassistischen Asylpolitik sprengen muss“

gez. fantifa ms & eklat ms